Wir sitzen zu zehnt mitten in einem Ballsaal. Ich niese und entschuldige mich. Ein Echo ist zu hören. Ich sehe mir den Kronleuchter an, er sieht aus wie der, den Del Boy in "Only Fools and Horses" seinerzeit fallen ließ. Die Gardinen haben meine Lieblingsfarbe: Lila. Man könnte damit ein Fußballfeld abdecken.

Ich stelle mir eine junge Frau vor, die mit der Grazie eines Schwans über den Boden schwebt. Jetzt sitzen wir hier wie zehn dumm aussehende Enten und warten darauf, dass uns der Kopf gewaschen wird.

Wir werden umringt von Menschen in weißen Laborkitteln mit Clipboards in den Händen und auf Stiften herumkauend – haben die nichts zu Essen bekommen? Die Stifte scheinen Flinten vom Kaliber 12 zu sein und eine davon ist auf mich gerichtet. Die Schützin schließt ihr linkes Auge und tut so, als würde sie abdrücken.

Oder spielt mir mein gestresstes Gehirn einen Streich, damit ich nicht mehr daran denke, dass hier kein Tisch steht?

Ist das jetzt ein Vorstellungsgespräch oder nicht?

Ich bin in der Cranfield University und nehme am Auswahlverfahren für ein Bewerbungsgespräch teil. Die Gewinner dürfen im Unternehmen weiterarbeiten. Die restlichen Teilnehmer werden Ehefrauen, -männern, Müttern und Vätern berichten müssen, dass sie schlicht nicht gut genug waren. Und das einzige, was mir Kopfzerbrechen bereitet, ist das Fehlen eines Tisches.

Wir schreiben das Jahr 2008, Großbritannien leidet unter der Wirtschaftskrise. Ich arbeite als Area Production Manager für ein Logistikunternehmen im Bereich Schienengüterverkehr. Keiner kauft Stahl. Aufgrund des fallenden Umsatzes müssen Kosten eingespart werden. Der Geschäftsführer versetzte daraufhin alle Manager im Unternehmen und schickt uns alle nach Cranfield, damit wir an einem Auswahlverfahren teilnehmen und zu neuen hippen Mitarbeitern in der Güterverkehrsbranche werden.

Ich bin altmodisch.

Für mich bedeutet "Auswahlverfahren" ein Gespräch unter vier Augen.

Dabei gibt es zwei wichtige Dinge: es sind nur zwei Personen im Raum und zwischen uns steht ein Tisch.

Hier gibt es keinen Tisch.

Und wir sind zu zehnt.

Willkommen in der Welt der Gruppenvorstellungsgespräche!

„Fangen wir an“, sagt der am intelligentesten aussehende Personaler.

Und dann ging's los.

Wir diskutierten über den Preispunkt einer Sonnencreme der Marke „Bronze Glow“ und die Streber machten sich Notizen.

Eigentlich ist es ja sehr effizient, Gruppenvorstellungsgespräche zu führen. Mit dem alten Verfahren würde alles zehn Mal so lange dauern. Außerdem fand ich es interessant, wie sie unser Verhalten in nicht klar vorgegebenen Situationen beobachteten. Das war erst etwas komisch – so wie als Kind in Neukölln Geige spielen zu lernen – aber bald hatte ich vergessen, dass sie anwesend waren.

Und dann kam ich auf eine Idee.

Wäre es nicht cool, wenn Unternehmen zehn Personen zu einem Auswahlverfahren einladen und sie beim Poker spielen beobachten würden? Dabei müssten sie zunächst sicherstellen, dass niemand die Regeln kennt, also alle die gleichen Voraussetzungen haben. Es gäbe eine kurze Einführung und dann würden die Karten gemischt.

Was könnten Unternehmen daraus lernen?

Genau das fragte ich den professionellen Pokerspieler und Autor Reid Young. Hier sind seine Ausführungen:

„Sowohl beim Poker als auch im geschäftlichen Leben kommt es auf den Kontext an. Wissen, Geduld, ein gewisses Maß an Aggression und Selbstbeherrschung sind unerlässlich“, so Young.

Context

Kontext

„Der Spieler sollte wissen, wo er im Spiel und im Unternehmen steht. Ein Beispiel: Wenn ich jemanden für den Vertrieb einstelle, kann das – abhängig vom Produkt und vom Geschäftsmodell – ein Job der Sorte „durch Schein zum Sein“ sein. Auch bei geringen Produktkenntnissen oder wenig Spielerfahrung beim Poker kann man mit der richtigen Selbstdarstellung viel erreichen.

Gegen schwache Spieler kann man mit der richtigen Selbstdarstellung erfolgreich bluffen, der Mitarbeiter oder Spieler sollte allerdings wissen, wann er zum Angriff übergehen sollte.“

 
Knowledge

Wissen

„Wenn ein Spieler vor dem wichtigen Spiel, bei dem es um einen Job geht, seine Hausaufgaben gemacht hat, weiß ich, dass diese Person viel wertvoller sein kann als ein erfahrener Mitarbeiter, der es nicht für nötig hielt, die Pokerregeln zu lernen, weil er davon ausgeht, er könne seinen Job sowieso nicht verlieren. Sowohl in der Geschäftswelt als auch beim Poker ist es ungemein wichtig, Situationen zu erkennen und sich entsprechend anzupassen.“

 
Patience

Geduld

„Das Warten, um im richtigen Moment zuzuschlagen, ist eine besondere Eigenschaft. Werden solche Gelegenheiten ausgelassen, kann dies den Spieler oder Unternehmen teuer zu stehen kommen. Erfolgreich sein kann – in der Geschäftswelt und auch im Poker – nur, wer genau weiß, wann und wie bestimmte Aktionen durchgeführt werden müssen. Mit zu viel oder zu wenig Aggression kommt man jedoch nicht ans Ziel.“

 
Aggression

Aggression

„Es gibt Situationen, in denen Aggressivität gefragt ist und andere, in denen man völlig passiv bleiben sollte. Wer den Wert einer aggressiven oder passiven Aktion genau einschätzen kann, ist, insbesondere bei emotionalen Auseinandersetzungen am Pokertisch oder in der Geschäftswelt, klar im Vorteil.“

 
Self Control

Selbstbeherrschung

„Das Verhalten ist ein Spiegel der Persönlichkeit. Gehen Sie zu viele Risiken ein, ist ein Scheitern vorprogrammiert. Nehmen Sie zu wenige Risiken auf sich, nutzen Sie Gelegenheiten nicht und spielen „unter Wert“. In der Geschäftswelt und beim Poker sind Selbstbeherrschung und eine gute Risikoeinschätzung unerlässlich. Der Erfolg eines Pokerspielers oder Unternehmens steht und fällt mit der richtigen Bewertung von Risiken. "Zusätzlich zu den fünf wichtigen Aspekten von Reid würde ich die folgenden weiteren Punkte berücksichtigen:

 
Interpersonal Skills

Soziale Kompetenz

Sowohl in der Geschäftswelt als auch beim Poker ist es extrem wichtig, mit vielen unterschiedlichen Menschen auszukommen. Wer auf verschiedene Arten effektiv und klar kommunizieren kann, ist im Vorteil. Reid unterstreicht die große Bedeutung der Selbstdarstellung, bei der man natürlich effektiv über den Körper kommunizieren kann. Meiner Meinung nach ist aber die verbale Interaktion zwischen den Spielern ebenso wichtig.

 
IQ / EQ

IQ/EQ

Ich würde Mitarbeiter mit hohem Intelligenzquotient (IQ) und hoher emotionaler Intelligenz (EQ) bevorzugen. Unternehmen können IQ und EQ bei potenziellen Mitarbeitern mithilfe spezieller Aufgaben testen. Am Pokertisch kann man diese beiden Eigenschaften hervorragend beobachten. Als Unternehmer würde ich sehen wollen, dass meine Mitarbeiter sowohl über Verstand als auch über Bauchgefühl verfügen.

 

 
Winning & Losing Mentality

Einstellung beim Gewinnen und Verlieren

Es gibt nur einen Gewinner in diesem Spiel. Welcher Spieler gewinnt und wie reagiert er auf den Sieg? Welcher Spieler verliert und wie reagiert dieser auf die Niederlage? Ich würde nicht zwingend den Gewinner einstellen. Es wäre aber interessant zu beobachten, wie sich die einzelnen Mitspieler verhalten, wenn sich einer zum Führungsspieler entwickelt und schließlich gewinnt. Wer zeigt sich arrogant oder bescheiden? Wer zuckt mit den Schultern und wer ballt die Faust? Wie bewältigen die Spieler Bad Beats und wie reagieren sie auf Ausschlüsse? Sowohl in der Geschäftswelt als auch beim Poker spielen alle diese Faktoren bei der Emotionsregulation eine große Rolle.

 

Insgesamt sind es also acht verschiedene Eigenschaften, die Reid Young und ich bei einem Gruppeninterview am Pokertisch analysieren würden.

Nun sind Sie an der Reihe.

Welche für ein Pokerspiel wichtige Eigenschaft würde sich auch in Ihrem Unternehmen gut machen?